Die zehn Legal Design-Prinzipien

Ändern Sie die Richtung rechtzeitig

Ändern Sie die Richtung rechtzeitig

Verlieben Sie sich nicht zu sehr in Ihre Geschäftsidee. Behalten Sie die Kundinnen im Blick und seien Sie bereit, sich immer wieder neu auszurichten.

 

Was haben YouTube, Slack, Shopify und Yelp gemeinsam – mal abgesehen davon, dass sie zu den bedeutendsten Unternehmen weltweit zählen? Sie alle haben einen harten Wendepunkt hinter sich. Jedes dieser vier Unternehmen hat sich zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgreich von seinem ursprünglichen Geschäftsmodell, Produkt oder Leistungsversprechen abgewandt, einen neuen Weg eingeschlagen und damit jeweils die gigantische Marke aufgebaut, die wir heute kennen und nutzen.

Im Business-Kontext ist das sogenannte „Pivoting“ an der Tagesordnung. Damit ist eine substanzielle Änderung der Geschäftsstrategie gemeint, die in der Regel durch ein überdurchschnittlich beachtenswertes Kunden-Feedback ausgelöst wird. 

In der Rechtsbranche ist Pivoting dagegen eher unüblich. Anderenfalls hätten die meisten Anwaltskanzleien wohl schon vor mindestens zehn Jahren den Verbrauchertrend hin zur Digitalisierung bemerkt und einen Großteil ihrer Ressourcen in den Aufbau eines vernetzten Dienstleistungsangebots gesteckt, um sich so eine neue, besser skalierbare und automatisierte Einnahmequelle zu erschließen. Kanzleien stellen aber nur selten Mittel für sogenanntes „Experience Design“ zur Verfügung, denn sie eruieren häufig weder den echten Bedarf der Klienten noch analysieren sie, welche Schlüsse sie aus bestimmten Kundenerfahrungen ziehen müssen. Das ist sicher einer der Hauptgründe, warum es Kanzleien bisher auch nur selten gelingt, sich an veränderte Kundenbedürfnisse anzupassen und sich entsprechend neu auszurichten.

Kanzleien fehlen Kenntnisse im Experience Design

In anderen Industrien spielt Design bereits eine sehr wichtige Rolle. Alle erfolgreichen Global Player, wie etwa Apple, PepsiCo und Procter & Gamble (P&G), investieren seit Jahren in Design. Und zwar nicht nur in Fragen der formalen Gestaltung und Ästhetik, sondern auch hinsichtlich ihrer strategischen Ausrichtung. Experience Design spielt dabei eine entscheidende Rolle – und zwar bei der Gestaltung ihrer Produkte und Dienstleistungen.

Die Rolle von Experience Designern

Experience Designer beobachten, wie sich die Kunden verhalten und was ihre Entscheidungen beeinflusst. Anschließend bringen sie ihre Erkenntnisse in die internen Entscheidungsprozesse ein. Der Kunde sitzt sozusagen immer mit am Tisch. In den Design-Teams namhafter Unternehmen finden sich daher nicht nur User Experience (UX) Designerinnen, Industriedesignerinnen, Illustratorinnen und Animationskünstlerinnen, sondern auch Experience Designerinnen. Sie bringen wichtige Skills, wie strategisches Design, Designforschung, Psychologie, Ethnografie und fundierte Kenntnisse über benutzerfreundliches Design, ins Unternehmen ein. In den meisten Anwaltskanzleien fehlen diese Kenntnisse oder Rollen.

Selbst innovative Anwaltskanzleien konzentrieren sich bisher meistens in erster Linie auf Legal Tech.

Es gibt zwar bereits fortschrittlichere Kanzleien mit Innovationsmanagern oder einem ganzen Innovations-Team. Deren Aufgabe besteht aber häufig noch darin, sich hauptsächlich um die technologische Weiterentwicklung der Kanzlei zu kümmern. Das Thema Kundenzentrierung und Nutzererfahrung spielt bisher kaum eine Rolle. Unserer Meinung nach sollten Kanzleien neben Innovations- und Technologie-Teams zusätzlich Experience Design Teams einsetzen, die dann auch wirklich kundenzentrierte Strategien erarbeiten.

Die Aufgabe eines solchen Experience Design Teams besteht darin, das jeweilige Ökosystem im Ganzen zu bewerten und bei internen Abstimmungen den Kundenblick zu repräsentieren. So wird sichergestellt, dass jede vom Legal Tech Team entwickelte Technologie und jede vom Innovations-Team ins Leben gerufene neue Initiative sowie jede von der Geschäftsleitung beschlossene Strategie auch zu den Bedürfnissen, Erwartungen und zur Motivation der Kunden passt. Auf dieser Basis können Rechtsabteilungen und Kanzleien dann fundierte Entscheidungen treffen, die auf die Bedürfnisse der Kunden und auf die Geschäftsziele abgestimmt sind. Sie erkennen neue Trends ohne nennenswerte Verzögerung und können einschätzen, ob eine Neuausrichtung erforderlich ist. Und sie sind in der Lage, sich zusätzlich zu ihren bestehenden Dienstleistungen neue Einnahmequellen zu erschließen, und zwar noch bevor ihre Klienten überhaupt den Bedarf danach äußern. Wer sich Experience Design ins Unternehmen holt, hat die Chance, sich vom passiven Akteur zum proaktiven Marktführer zu entwickeln. Auf diesen Aspekt werden wir in Kapitel 7 noch näher eingehen.

Pivoting im Zusammenhang mit Legal Design

Zurück zum Pivoting: Im Bereich Legal Design ist mit Pivoting die Bereitschaft gemeint, überholte Vorstellungen und Lösungen zu verändern, sofern Beobachtungen des Kundenverhaltens dies nahelegen. Das bedeutet konkret, alte Ideen loszulassen und neue Wege einzuschlagen, um Kundinnen zufriedenzustellen. Was zur Kundenzufriedenheit führt, ergibt sich häufig ganz von selbst, wenn Sie sich in Ruhe damit auseinandersetzen, was Ihre (internen oder externen) Klienten eigentlich wirklich brauchen. Pivoting bedeutet übrigens nicht zwingend, vom eigentlichen Ziel komplett abzuweichen – das bleibt sogar meistens bestehen. Aber der Weg dorthin und die damit verbundenen Angebote ändern sich.

Flexibilität als Erfolgsfaktor

Wie wichtig es ist, Kundenwünsche ernst zu nehmen und sich gegenüber Neuem nicht zu verschließen, zeigt der exemplarische Blick auf die global ausgerichtete Online-Bewertungsplattform Yelp. Ob ein Unternehmen lokal erfolgreich ist oder nicht, hängt heute insbesondere in den USA stark von Yelp-Bewertungen durch die lokale Community ab. Yelp war aber nicht immer die top erfolgreiche Empfehlungs- und Bewertungsplattform von heute. Die ursprüngliche Geschäftsidee war zunächst ein automatisiertes System, über das Nutzerinnen ihre Freunde nach direkten Empfehlungen fragen konnten. Die Idee kam allerdings beim Publikum nicht so an wie erwartet. Bei der Analyse von Nutzer-Feedback und -verhalten fielen den Gründern interessante Muster auf. Sie entdeckten, dass ihre Kunden die Plattform vielmehr dazu nutzten, Bewertungen über lokale Geschäfte abzugeben – einfach so, zum Spaß. Die Unternehmensgründer verwarfen also kurzerhand ihre ursprüngliche Idee und schwenkten auf eine neue, an den Bedürfnissen der Kunden orientierte Ausrichtung um. Seither ist Yelp zu einer der größten und vertrauenswürdigsten Bewertungs- und Empfehlungsplattformen herangewachsen, mit rund 170 Millionen Besucherinnen im Monat und über 150 Millionen unabhängigen Bewertungen.

Was denken Sie: Wo stünde Yelp heute, wenn die Unternehmensgründer damals nicht offen für eine Neuausrichtung gewesen wären und stattdessen an ihrer ursprünglichen Idee festgehalten hätten? Wenn sie die ursprüngliche Vision ihres Unternehmens weiterverfolgt hätten, statt sich anzusehen, was ihre Kundinnen eigentlich wollen?

Schaffen Sie Raum für neue Ideen 

Bleiben Sie also auf gesundem Abstand zu Ihren Ideen und versteifen Sie sich nicht zu sehr auf bestimmte Lösungen. Achten Sie auf Hinweise Ihrer Kundinnen und Mandantinnen, die darauf hindeuten könnten, dass ihre Bedürfnisse durch eine neue Idee, einen frischen Ansatz oder eine andere Lösung besser getroffen würden. Kurz: Seien Sie bereit, sich neu auszurichten.

Bitte beachten Sie:
Wenn Sie unseren Text oder Teile davon in irgendeiner Weise verwenden, müssen Sie Das Legal Design Buch und uns, die Autorinnen Meera Klemola und Astrid Kohlmeier, als Informationsquelle angeben.

Eine neue Perspektive auf die Arbeit im Recht

Dieses Buch ist Pflichtlektüre für alle praktizierenden Juristen, die Themen wie Innovation, Digitalisierung und Vereinfachung praxisnah angehen wollen und dabei den Mandanten in den Mittelpunkt aller Untersuchungen stellen – für zeitgemäße und nützliche Rechtsdienstleistungen.

Mehr erfahren (Englisch)Jetzt kaufen